Ich möchte mit euch in dieser ersten Staffel einige Dinge ausprobieren und mittels eurem Feedback zu einem Format gelangen, welches auch in Zukunft gern von euch gehört wird. Daher mache ich in jeder Podcastfolge dieser ersten Staffel etwas ein wenig anders.
In der ersten Folge haben wir mit dem Interview von Kindern begonnen. Das Wissen der Kinder diente als eine erste Einleitung in das Thema. Die Folge wurde aufgrund der verschiedenen Teile aber auch sehr lang.
Um den Podcast etwas zu kürzen, fokussieren wir uns in dieser Folge ganz auf das Gespräch mit der Expertin.
Zu Gast ist: Frau Dr. Regina Schidel von der Goethe-Universität Frankfurt.
Marc von der Linde
Menschenwürde - Also was ist das? Ist es tatsächlich eine Eigenschaft des Menschen? Wie lässt sie sich begründen, was ist der Kern dieses Konzepts, können wir sie verlieren und was würde das überhaupt bedeuten?
Um diese und andere Fragen zu klären bin ich heute bei Frau Dr. Regina Schidel.
Vielen Dank, dass sie sich heute Zeit für das Gespräch nehmen. Sie sind zurzeit akademische Rätin an der Universität in Frankfurt. Wir nehmen heute in ihrem Büro im Haus der Normativen Ordnung in Frankfurt auf.
Können Sie bitte einmal kurz erläutern, womit Sie Sich in ihrer Forschung aktuell beschäftigen?
Dr. Regina Schidel
Also ich habe dieses Buch über Menschenwürde und Behinderung (https://www.genialokal.de/Produkt/Regina-Schidel/Relationalitaet-der-Menschenwuerde_lid_50385178.html) geschrieben.
Das liegt jetzt ein paar Jahre zurück, aber natürlich ist das ein Forschungsthema und -interesse, das mich immer noch begleitet.
Meine jüngere Forschung oder neuere Forschung zielt ein bisschen stärker in die Richtung der feministischen Erkenntnistheorie ab. Und da beschäftige ich mich mit Fragen: Wie Wissen, Erfahrungen, oder auch die Mitteilungen und Weitergabe von Wissen immer schon in soziale Strukturen oder auch soziale Hierarchien eingebettet ist.
Und die Idee ist, daraus dann auch langfristig ein Habilitationsprojekt zu formen.
Aber da bin ich einfach noch am Anfang meiner Überlegungen.
Marc von der Linde
Ok, das klingt auch sehr spannend. Ich würde dann direkt einmal anfangen mit dem heutigen Thema.
Und zwar in der Literatur habe ich von einer begrifflichen Einordnung in eine große Menschenwürde, eine mittlere Menschenwürde und eine kleine Menschenwürde gelesen.
Kennen Sie diese Differenzierung, und würden Sie sie ähnlich vornehmen oder halten Sie sie für nicht sinnvoll?
Dr. Regina Schidel
Also ich würde die Einteilung ein bisschen anders vornehmen, weil das „Groß“ und „Klein“ klingt nach einer sehr starken Hierarchisierung.
Ich würde eher sagen: Es gibt so was wie einen Wertbegriff von Würde, einen Statusbegriff und einen Habitusbegriff.
Und vielleicht deckt sich dann der Wertbegriff mit dieser Vorstellung einer großen Würde, der Statusbegriff mit der mittleren und der Habitusbegriff mit der kleinen.
Obwohl ich jetzt dieser Hierarchisierung nicht unbedingt folgen würde.
Aber, man könnte dann sagen, Menschenwürde als Wert ist etwas dem Menschen inhärentes ein, ja ein intrinsischer unverlierbarer Wert, der ihm quasi einer vernünftigen Natur zukommt, so die herkömmliche Definition.
Menschenwürde als Status meint dann vielmehr eine soziale Beziehung. Also der Mensch als soziales Wesen in Bezug auf andere. Ich denke, das ist das, was dieser Klassifikation als mittlere Würde entspricht.
Und die kleine Würde, Würde als Habitus, als würdevolles Verhalten ist eher wie ein tugendethischer Ansatz. Da würde dann Menschenwürde als etwas konzeptualisiert werden, was wir erwerben können. Was wir aber auch wieder verlieren können, indem wir uns zum Beispiel unwürdig verhalten.
Ich denke, das wären die Äquivalente zu dieser Charakterisierung, die sie angesprochen haben.
Marc von der Linde
Ja, das ist in etwa deckungsgleich. Kommen wir nun zur Ideengeschichte und zu den Erwähnungen des Begriffs in der Philosophiegeschichte.
Kant trug in vielen Hinsichten für die Verbreitung der Aufklärung bei und ist auch heute noch sehr relevant für den Aufklärungsgedanken.
Auch zur Idee der Menschenwürde schrieb er 1758 in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten etwas, und zwar:
“Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. […] das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d.i. eine Würde.”
Kant macht darin den Schritt der Loslösung vom Gottesebenbildgedanken.
Dem Menschen liegt eine Würde inne, die dem Menschen nicht allein zuteilwird, weil er ein Ebenbild Gottes ist. Worin liegt, in Ihren Augen, die Stärke von Kants Verständnis von Würde?
Dr. Regina Schidel
Ich denke, die Stärke bei Kant liegt darin, das haben sie ja schon angedeutet, dass er dieses Bedingungsverhältnis zu einer göttlichen Autorität gewissermaßen kippt oder eliminiert.
Also das heißt, die menschliche Würde ist nicht mehr von einer transzendenten Entität abhängig, die dem Menschen seine Würde verleiht, sie ihm vielleicht aber auch wieder nehmen kann.
Sondern Würde kommt Menschen unbedingt zu.
Und wir haben, wenn wir in die Geschichte des Würdebegriffs schauen, also in der christlichen Tradition zum Beispiel mit Thomas von Aquin, aber dann auch im Humanismus mit Pico della Mirandola schon die Idee, dass Menschenwürde etwas dem Menschen intrinsisch Zukommendes ist.
Aber trotzdem ist da immer auch noch die Idee: Wirkmächtig durch würdeloses Verhalten kann der Mensch seine würde auch wieder verlieren.
Indem er dieser Gottesebenbildlichkeit eben nicht genüge wird, ist die menschliche Würde gewissermaßen bis zu einem gewissen Grad kontingent.
Und dieser Gedanke einer Kontingenz oder einer Verlierbarkeit der Würde, die erfährt mit Kant sozusagen einen radikalen Bruch, auch mit dem Zitat, was sie jetzt gebracht haben.
Es gibt ja auch diese Formulierung des kategorischen Imperativs: Also wo er sagt, Handle so, dass Du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel braucht.
Also diese Selbstzweckhaftigkeit des anderen Menschen, die ist unhintergehbar, unverlierbar und auch nicht an bestimmte individuelle Bedingungen geknüpft - meiner Interpretation nach. Aber das ist hoch umstritten in der Debatte.
Und ja, das ist sozusagen das radikale Moment in Kants aufklärerischem Denken zu sagen: Menschenwürde ist unverlierbar.
Marc von der Linde
Er schreibt ja dann auch, dass ein jeder Mensch einen rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen hat.
Was meinte er mit diesem rechtmäßigen Anspruch? Ist das etwas, was man dann einfordern kann? Oder wie kann ich mir das vorstellen?
Dr. Regina Schidel
Also da muss man vielleicht eine moralische von der rechtlichen Ebene trennen.
Also wenn wir jetzt in das Recht gucken, auch auf den ersten Satz des deutschen Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Oder die Formulierung in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten.
Daraus werden dann ja auch die Grundrechte oder die Menschenrechte abgeleitet.
Und ja, die sind auf jeden Fall einforderbar und einklagbar, das ist im rechtlichen Sinn eigentlich sehr klar.
Wenn wir jetzt auf die moralische Begründung zurückblicken, wie kennengelernt haben ist es zu einem gewissen Grad bestimmt auch so, dass es eine Einforderbarkeit, eine Einklagbarkeit gibt.
Aber sozusagen die gedankliche Richtung von Kant ist ein bisschen anders.
Da geht es nicht primär darum: „Was kann ich eigentlich als Mensch von den anderen erwarten? - Sondern was schulde ich als autonome, als vernünftige Person den anderen?“.
Und die Idee von Kant ist zu sagen: Wenn ich wirklich versuche meine eigene Autonomie, meine Vernünftigkeit bis zum Ende zu durchdenken; dann komm ich gar nicht umhin zu sehen, dass mein Gegenüber in gleicher Weise ein selbstzweckhaftes Wesen wie ich ist.
Dem ich deswegen unbedingte Achtung schulde.
Es ergibt sich sozusagen zwangsläufig aus einer vernünftigen Reflexion. Die Einsicht, dass das andere Wesen ein würdebegabtes Wesen ist, dass ich zu achten und zu respektieren habe.
Dann gibt es später im deutschen Idealismus etwa bei Fichte oder Hegel, den Versuch es stärker auch anerkennungstheoretisch zu deuten.
Aber ich glaube, dass diese Idee, dass Würde immer intersubjektiv relational ist, zumindest implizit schon angelegt ist.
Und es gibt natürlich auch Leute, die Kant ganz anders lesen. Aber ich glaube, denen könnte man mit guten Argumenten widersprechen.
Marc von der Linde
Sie haben das eben schon einmal erwähnt, dass Kant schreibt:
“denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden”
Inwieweit können wir verhindern, dass wir einander als Mittel gebrauchen?
Dr. Regina Schidel
Inwieweit können wir das verhindern?
Also wenn es auf eine, wenn Sie wirklich auf eine jetzt ganz faktische Ebene anspielen, dann sehen wir ja, dass in der Geschichte das allzu oft passiert ist. Also, dass Menschen wirklich degradiert, instrumentalisiert, entmenschlicht wurden zu bloßen Objekten.
Also es gibt sozusagen keine faktische Instanz, die das verhindert. Sondern wir können nur versuchen, uns die institutionell, zum Beispiel durch das Recht, durch Regeln und Gesetze aufzuerlegen, die das verhindern, dass so etwas faktisch passiert.
Und wenn wir jetzt noch mal auf die Geschichte zurückblicken, dann sehen wir auch, dass im Nachgang des Zweiten Weltkriegs der Menschenwürdebegriff wieder enorm, an Popularität gewonnen hat.
Also er fand Eingang ins deutsche Grundgesetz, ganz prominent in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, und es gibt noch ein paar andere Beispiele.
Und ich glaube, dass war genau der Versuch zu sagen: Wir haben jetzt erlebt, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass durch totalitäre Diktaturen, also natürlich der Nationalsozialismus, aber auch Stalinismus, diese Idee, dass Menschen selbstzweckhaft sind, dass sie keine bloßen Objekte sind, dass diese Idee radikal in schrecklichster Weise missachtet wurde.
Und deswegen gab es dann ganz stark den Gedanken: Wir brauchen starke rechtliche Instanzen wie das Menschenrecht oder auch ein starkes Verfassungsrecht, wie jetzt spezifisch in Deutschland, um dem entgegenzuwirken.
Um dafür zu sorgen, dass Menschen wirklich grundlegende Rechte, Grundrechte, Menschenrechte, subjektive Schutzrechte haben. Und diese Rechte vor allem staatlichen Autoritäten eine Grenze ziehen.
Dass es einen Bereich gibt, einen Bereich der menschlichen Integrität, in die der Staat nicht eingreifen kann. Und dann hat der Staat auch dafür zu sorgen, dass es Dritte nicht tun.
Marc von der Linde
Wenn Kant von der Würde schreibt, hat es für mich etwas anmutiges an sich. Es klingt fast so, als hätte er quasi ein Rezept für Frieden aus seinem Ärmel geschüttelt: Wenn alle Menschen die Würde aller anderen Menschen respektieren und achten, wird Krieg und Gewalt unmöglich.
Doch dann kommt von Bentham 1796 mit einer sehr radikalen utilitaristischen Kritik - die Ideen natürlicher Rechte des Menschen seien “Nonsense”.
Sind Rechte des Individuums also doch eher eine Gefahr für die Allgemeinheit und das Pochen auf eigene Rechte egoistisches Gehabe?
Dr. Regina Schidel
Also ich glaub das sind verschiedene Stränge.
Zum einen Banthams Kritik, Menschenrechte als „Nonsense upon stilts“.
Daran knüpft dann ja später zum Beispiel auch Hannah Arendt an, die dieser Menschenrechtskritik folgt.
Und ich glaub, da geht es aber gar nicht darum zu sagen, Menschenrechte als normative Idee sind per se Unfug, sondern sie sind dann Unfug, wenn sie zu einer bloßen Rhetorik verkommen.
Wenn gerade politisches Handeln verhindert, dass diese Menschenwürde Rechnung trägt.
Bei Hannah Arendt haben wir dann ja die Idee oder auch die Beobachtung, dass es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Massen an Menschen gab, die durch die politischen Umbrüche staatenlos wurden. Die fliehen mussten, also zum Beispiel auch die europäischen Juden und Jüdinnen und deren Menschenrechte von niemandem mehr geschützt wurden, weil es eben keine staatliche Instanz mehr gab, die diese Menschen als Bürger innen angesehen hat.
Um dann noch mal Banthams Kritik aufzugreifen: Wenn es eine bloße Rhetorik ist, die aber quasi faktisch überhaupt nicht umgesetzt wird, weil es keine staatliche Instanz gibt, die diesen menschlichen Schutz total werden lässt, dann haben wir ein Problem, aber es ging ihr nicht darum diese Idee gänzlich über Bord zu werfen.
Und von Hannah Arendt stammt dann ja auch so diese berühmte Interpretation von Menschenwürde als eines Rechts auf Recht, der als ein Recht darauf zu haben, überhaupt Teil einer rechtlichen Gemeinschaft zu sein, die die eigenen Rechte auch wirksam schützt. Ich denke, so lässt sich vielleicht dieser Bantam-Einwand entkräften.
Und zur Frage des Egoismus, klar, da gibt es so eine ganze Linie der Rechtskritik, die dass befürchten.
Also zum Beispiel Christoph Menke hier auch in Frankfurt ganz prominent. Diese Stimmen sagen, es ist ein sehr liberales oder liberalistisches Konzept, dass quasi jeder eigentlich nur noch seinem Eigeninteresse folgt.
Und diese Kritik ist auf jeden Fall auch wichtig und einschlägig. Vielleicht ist es trotzdem ein bisschen zu pauschal oder radikal. Denn wenn man sie jetzt in so einer Einfachheit nehmen würde, weil der Mensch dadurch ja nicht nur als eigeninteressiertes Wesen sondern auch als soziales Wesen geschützt wird.
Also die Menschenrechte sollen ja auch immer einen sozialen Schutzcharakter haben, also dass quasi Menschen auch unbehelligt von Staatlicher Übergriffigkeit in demokratischen Gesellschaften zusammenleben können.
Und dann gibt es auch in jüngerer Zeit versuche, eben Menschenrechte viel relationaler zu deuten, was zum Beispiel aus der feministischen Theoriebildung kommt.
Also: In dieser Marxschen Linie, die dann auch von Menke weitergeführt wird, zu sagen, Menschenrechte sind nur die Rechte des bloßen Individuums, das auf Gewinnmaximierung aus ist.
Es wäre ein krasses Missverständnis oder auch eine krasse Verkürzung, aber ist als kritisches Moment natürlich wichtig, um diesen sozialen Charakter stärker zu machen oder hervorzuheben.
Marc von der Linde
Also denke sie, dass die Kritiken vor allen darauf abzielen, dass man die Idee noch stärker in der Realität verankert?
Dr. Regina Schidel
Ja, dieser bloßen Rhetorik, wenn etwas entgegensetzt.
Marc von der Linde
Und noch mehr Fakten schafft, sozusagen?
Dr. Regina Schidel
Ja, ich weiß nicht, ob da Fakten gemeint sind.
Also wenn Sie meinen, dass es für sie auch wirklich immer wieder einer politischen Re-aktualisierung oder eines politischen Kampfes um Menschenrechte bedarf, dann sicher.
Also, was wir zum Beispiel in jüngster Zeit auch sehen bei der Klimarechtsbewegung, bei Klimarechtsaktivistinnen: Dann Fridays for Future und so weiter da geht es vielleicht gar nicht explizit um Menschenrechte aber implizit auf jeden Fall schon. Also auch zum Beispiel um die Frage: Terminieren wir nicht durch die radikale Ausbeutung und Zerstörung der Natur durch die Klimakatastrophe eigentlich unsere eigene Lebensgrundlage?
Und dann könnte man auch sagen, Menschenrechtliches denken würde dann auch bedeuten, sowas wie: Wie können wir eigentlich ein vernünftiges oder ein Angemessenes, eine angemessene Umgangsweise mit der Natur finden?
Wie können wir eigentlich die Mensch Natur, Beziehung viel weniger ausbeuterisch gestalten, um überhaupt in Zukunft ja eine sinnvolle Lebensgrundlage zu haben?
Und das wäre glaub ich, so ein ganz konkretes politisches Anliegen zu sagen: Was sind eigentlich die Voraussetzungen dafür, dass wir als Menschen menschenwürdig weiterleben können?
Und da müssten dann solche Fragen wie die Naturverhältnisse und das Zusammenleben von Mensch und natürlicher Umwelt viel stärker in den Blick nehmen und wenn sie das mit faktisch meinen - Dann würde ich da völlig zustimmen.
Marc von der Linde
Nun liegen den Bewertungen dieser Philosophen verschiedene Auffassungen des Bedeutungsinhalts zu Grunde.
Also, welchen normativen Gehalt hat dieser Begriff tatsächlich?
Und gibt es eine unveränderliche Eigenschaft, die dem Menschen die Menschenwürde verleiht?
Dr. Regina Schidel
Also da sind wir jetzt wieder bei diesem Thema, das wir vorhin hatten.
Menschenwürde – ist es ein Wert, ein Status oder ein Habitus?
Und die Werttheorien würden sagen, es gibt bestimmte Eigenschaften oder Fähigkeiten, die die Grundlage dafür sind, dass Menschen Würde haben, also sowas wie eine bestimmte Vernunftfähigkeit, kognitive Eigenschaften, Sprachfähigkeit.
An bestimmten Prinzipien über die Zeit hinweg auszurichten und so weiter, das sind auch oft Theorietraditionen, die sich auf Kant berufen und beziehen.
Und ich glaube, solche Theorien unterliegen aber einem Fehlschluss oder einem Kurzschluss.
Denn wenn es dieses Bedingungsverhältnis wirklich gibt: Bestimmte Eigenschaften und aus diesen Eigenschaften erwächst ein Wert namens Würde, wenn das wirklich am empirischen konkreten Individuum festgemacht wird.
Dann müssten wir uns fragen: Was ist mit Kindern? Was ist mit dementen Menschen? Was ist mit Menschen mit schweren geistigen Einschränkungen, fallen die dann eigentlich alle raus? Das kann ja kein sinnvoller Menschenwürdebegriff sein.
Deswegen gibt es einen Versuch zu sagen: Es gibt vielleicht sowas wie eine Potenzialität dieser Eigenschaften und weil Menschen qua ihrer Gattungszugehörigkeit als Menschen diese Potenzialität haben, deswegen haben sie Würde.
Diese alte Begründung ist schwierig, weil dann so eine sehr, ja essentialistische Auffassung der menschlichen Natur vorausgesetzt wird und die Fälle, die ich genannt habe, müssen dann immer noch als Abweichungen verstanden werden. Ich glaub das ist ein Problem.
Und deswegen könnte man zum Beispiel auch mit Kant sagen, also Kant bemüht ja diesen Menschheitsbegriff und dieser Menschheitsbegriff ist vielleicht gar nicht so empirisch oder anthropologisch zu verstehen. Sondern eben vielleicht eher relational.
Also es geht darum, als Teil der Menschheit, als Teil derjenigen Gemeinschaft zu sein die zusammen die Welt bewohnen, die in sozialen Beziehungen zueinander stehen die ganz vielfältig sind was ihre kognitiven Fähigkeiten anbelangt.
Und ja, ich würd ihr versuchen diese theoretische Ausrichtung ernst zu nehmen, wir finden zum Beispiel auch Momente davon bei Hannah Arendt, was sie auch aus der phänomenologischen Tradition schöpft, also dieses geteilte Menschliche in der Welt sein. Zusammen die Welt bewohnen, das als unhintergehbarer Ausgangspunkt, und das halte ich für überzeugender als diese sehr individualistischen Werttheorien.
Marc von der Linde
Nun gibt es einige Stimmen, die ähnlich wie Nietzsche, behaupten, dass die Menschenwürde nur ein Produkt der Philosophie ist. Also, dass sie in gewisser Weise nur ein Phantom ist, was sich Menschen ausgedacht haben.
Peter Schaber beispielsweise stellt die These auf, dass die Menschenwürde lediglich ein normativer Anspruch ist, den Personen anderen gegenüber legitim geltend machen können.
Was halten Sie von dieser These?
Dr. Regina Schidel
Also ich finde diese These von Peter Schaber eigentlich überzeugend, weil sein Zugang ist ja zu sagen: Es ist ein Anspruch, aber es ist auch kein kontingenter Anspruch, sondern eigentlich ein Unhintergehbarer, unverlierbarer Anspruch. Also es wird am ehesten auf dieses Statuskonzept ansprechen, wie ich das formuliert habe.
Und das ist auch ein Anspruch, quasi dessen normative Geltung wir philosophisch immer wieder versuchen einzuholen, einzulösen, wie etwa mit Kant, aber auch mit stärker feministischen Theorieansätzen.
Und wir können eigentlich als Menschen überhaupt nicht sinnvoll zusammenleben ohne diesen starken normativen Anspruch, aneinander zu stellen und voneinander einzufordern.
Weil auch unser ganzes Rechtssystem, die ganze Vorstellung von Gleichheit in der Demokratie, so schlecht die in der Gegenwart vielleicht eingelöst ist, darauf basiert.
Und so interessant Nietzsche als Denker ist, ist es schon einfach eine krasse Polemik, weil das sowas wie ein radikales Gleichheitsdenken verunmöglichen würde. Und mit seiner Polemik macht er auf etwas ganz wichtiges aufmerksam: Nämlich, dass in der Geschichte dieser Würdebegriff oft zu einer Leerformel verkommen ist. Der geradezu missbräuchlich eingesetzt wurde. Also seine Kritik ist extrem wichtig, aber ich glaub wir müssen an so einem affirmativen Menschenwürdebegriff trotzdem auf jeden Fall festhalten.
Marc von der Linde
Jürgen Habermas plädierte auch darauf, die Menschenwürde als “reziproke Anerkennung” zu verstehen. Damit ist laut Hasso Hofmann die Menschenwürde ein Relations- und Kommunikationsbegriff. Die Menschenwürde sei somit auch immer abhängig davon, dass es eine Gemeinschaft gibt, die diese anerkennt.
Gehen Sie diese Prämisse von Hofmann mit?
Dr. Regina Schidel
Also, dass es sich um nationales Anerkennungsverhältnis handelt, wie das Habermas formuliert, würde ich unbedingt mitgehen und bei ihm ist es ja auch eine spezifische Kantlektüre. Also quasi weg von diesem individuellen auf Rationalität, fokussierten, hinzu einem sozialen Verständnis. Wobei ich es noch stärker machen würde als Habermas, aber ich glaube, das geht in die richtige Richtung.
Und dann der Einwand, dass es dadurch eine Kontingenz gewinnt. Ich glaub der würde nur stimmen, wenn wir dann sagen: Ja Menschenwürde ist halt nur etwas zuerkanntes, zu gesprochenes. Habermas lässt sich stärker deuten, um zu sagen: Es gibt diesen Anspruch und der ist auch Unhintergehbar und der stellt sich nur durch unser Mensch sein. Wir können diesem Anspruch des anderen gar nicht entgehen, wie das Levinas sagen würde.
Und ich glaube nicht, dass es stimmt, dass die Achtung der Würde dann von einer Anerkennungsrelation in einem normativen Sinn abhängig ist.
Im praktischen Sinn ist es natürlich immer so: Da reicht ein Blick in die Geschichte oder auch in aktuelle Phänomene denken Sie an Migrantinnen, die im Mittelmeer ertrinken. Deren Würde wird mit Füßen getreten, aber das heißt nicht, dass sie die deswegen in einem normativen Sinn nicht hätten oder nicht Ansprüche hätten. Sonst könnten wir überhaupt nicht mehr formulieren, warum hier eigentlich eine krasse Menschenwürdeverletzung stattfindet, wenn wir nicht diesen ja ganz starken deontologischen Begriff hätten.
Also ich glaub, dass diese Interpretation von Hasso Hoffmann zu stark versucht, diesen deontologischen Kern irgendwie aufzulösen oder in das subjektiv zu verflüssigen. Aber nur, weil etwas intersubjektiv oder Relational ist, heißt es noch lange nicht, dass quasi dieser starke deontologische Moment verloren geht.
Marc von der Linde
Dann kommen wir einmal zu der Geschichte des Begriffs in der tatsächlichen Welt.
Nach dem zweiten Weltkrieg wird die Menschenwürde 1948 dann auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte als zu bewahrende und zu schützende Eigenschaft des Menschen festgehalten:
“Wir, die Völker der Vereinten Nationen - fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Person, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, […]”
Wir sprachen eben auch darüber, dass laut Hofmann die Menschenwürde auch immer von der Gemeinschaft abhängig ist, die sie anerkennt. Ist die Idee der Menschenwürde somit auch ein politisches Instrument?
Dr. Regina Schidel
Können Sie also ein Beispiel nennen, was Sie sich unter dieser Instrumentalisierung genau vorstellen?
Also geht es darum, dass es einfach so eine bloße rhetorische Formel wird die dann tatsächliche Unrechtsverhältnisse irgendwie bemänteln oder verdecken soll? Ist es ist dieser Einwand, also dieser Benthamsche?
Also ja, auf jeden Fall wird das gemacht. Na, denken wir an so etwas wie Diversität. Wo jetzt jede Firma sich irgendwie ein Diversity-Konzept schreibt. Und das ändert aber überhaupt nichts an realen kapitalistischen Ausbeutungsstrukturen von Frauen oder migrantischen Personen oder Minderheiten.
Also das wäre dann quasi so ein rhetorisches kaschieren von etwas. Das ist ja zum Beispiel auch teilweise die Nietzsche Kritik. Also das ist auf jeden Fall ein Problem, aber ich glaube das trifft überhaupt nicht spezifisch auf den Menschenwürde-Begriff zu, sondern auf alle normativen Konzepte.
Alle normativ fruchtbaren Konzepte können missbräuchlich verwendet werden. Dass sie in irgendwelchen Policy Papieren oder Unternehmensethik-Konzepten eben drinstehen und dann genauso verfahren wird wie zuvor.
Ja, dessen sollten wir uns immer bewusst sein. Das das habe ich auch versucht in meinem Buch ein bisschen herauszuarbeiten, dass es teilweise auch in der Philosophie passiert.
Dass durch diese so sehr rationalistische und individuelle Deutung von Menschen, und das ist eine Eigenschaft, die Menschen aufgrund ihrer empirischen Vernunftnatur zukommt, dass dann auch teilweise der Ausschluss von manchen Menschen aus dem Kreis der Menschenwürdeträgerinnen begründet wird.
Also Menschen mit schweren geistigen Einschränkungen, mit schweren Formen von Demenz - da gibt es vor allem auch in der analytischen Tradition manche Autoren, die dann wirklich das auch so explizit formulieren: Nicht alle Menschen haben Menschenwürde und ich glaube, das wäre schon auch eine ideologische, missbräuchliche Verwendung. Und das haben wir natürlich genauso in der Politik.
Wenn es dann zu einer schillernden, rhetorischen Figur gerät, die aber eigentlich nur darüber hinwegtäuscht, dass Menschen weiter ausgebeutet, unterdrückt, instrumentalisiert werden.
Marc von der Linde
Stehen in dieser Hinsicht die heutige Leistungsgesellschaft und die Menschenwürde in einem Spannungsverhältnis?
In einem Sinne, dass die Forderung, dass jeder seines Glückes Schmied ist als Forderung an jeden einzelnen im Raum steht?
Dr. Regina Schidel
Doch auf jeden Fall, da haben Sie einen Punkt. Also ich würde nicht sagen, dass Menschen ihre würde geraubt wird. Weil Menschenwürde ist Unverlierbar, die kann keinem Menschen genommen werden, die kann verletzt werden, die kann unterminiert werden.
Aber dieser fundamentale Anspruch, der kann nicht verloren werden.
Aber in jedem Fall entstehen Reibungen und Konflikte durch diese Leistungsgesellschaft, auch durch diese Idee der Selbstoptimierung. Weil da eben bestimmte Menschen, die jetzt diesem Leistungsideal nicht entsprechen und nicht entsprechen können aufgrund von körperlichen Einschränkungen, von geistigen Einschränkungen, von Krankheiten, von bestimmten Lebenslagen - da ist alles Mögliche denkbar.
Dass die in einer Gesellschaft nicht als gleiche agieren können; sondern von Ausgrenzung, von Marginalisierung, von Ausbeutung bedroht sind.
Und das ist auf jeden Fall eine Bedrohung für die Menschenwürde, weil dieser Anspruch, dass alle einen gleichen moralischen Status haben und als Gleiche in der Gesellschaft gelten sollten, weil der dadurch natürlich fundamental bedroht wird.
Und ich denke, dass wir sozusagen eine menschenwürdigere Gesellschaft hätten, wenn wir von diesem kapitalistischen Wachstums- und Selbstoptimierungswahn ein Stück weit wegkommen könnten.
Marc von der Linde
Denken Sie, dass der Staat dann zu gewissen Interventionen verpflichtet ist, wenn er sich eben der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet?
Dr. Regina Schidel
Ja, unbedingt würde ich das Denken.
Also Interventionen klingen ein bisschen militärisch: George Bush marschiert im Irak ein, um dort irgendwie die Menschenrechte zu schützen.
Nein, das ist auf keinen Fall gemeint. Wenn sie jetzt eher so etwas meinen wie ökonomische Verhältnisse, würde ich denken, ja.
Und es wird ja auch in einem rechtlichen Sinn gerecht werden: Denn die Grund- und Menschenrechte werden aus der Menschenwürde abgeleitet. Und Menschenrechte sind ja nicht nur die bürgerlichen Freiheitsrechte, sondern auch politische Teilhaberechte und Soziale Rechte, also auf ein bestimmtes ökonomisches Minimum.
Wir haben in Deutschland auch Sozialhilfe, auch wenn die in den letzten Jahrzehnten immer weiter irgendwie verstümmelt wurde, aber trotzdem gehört zu dem Menschenrechtsgedanken ja schon, dass es ein materielles, soziales Existenzminimum geben muss.
Und insofern ja, gehört es rechtlich dazu. Und jetzige Versuche, diesen Sozialstaat komplett auszuhöhlen, widersprechen hier auch eigentlich menschenrechtlichen Erfordernissen.
Marc von der Linde
Vielen Dank für diese Einschätzung. Nun habe ich noch eine Frage in Bezug auf künstliche Intelligenz.
Und zwar geht es um ein Gedankenexperiment:
Mal angenommen, es gäbe in der Zukunft humanoide Roboter, die scheinbar selbst entscheiden können. Die eben scheinbar dieses Kriterium einer Vernunft Begabung erfüllen und die sich scheinbar auch scheinbar völlig autonom in der Welt bewegen.
Wenn wir die Menschen-Würde als Selbstbestimmung eigener Belange verstanden wissen.
Halten Sie es dann für sinnvoll, dass wir den Begriff der Würde in der Zukunft auch diesen Robotern zusprechen?
Dr. Regina Schidel
Also ich habe es ja die ganze Zeit versucht zu sagen: Wir dürfen nicht nur vom Vernunft-geleiteten Menschenwürde-Begriff sprechen.
Also die Vernunft spielt eine Rolle, weil sie uns zu der Einsicht befähigt, dass wir die Würde anderer anerkennen müssen, das ja.
Aber dann hängt Menschenwürde ja auch ganz stark an unserer Sozialität. Auch daran, dass wir verletzlich sind als menschliche Wesen und dass wir Teil von der Menschheit sind. Von einer bestimmten sozialen Gemeinschaft sind.
Also ich denke, wenn das in irgendeiner Weise bedeutet, dass menschliche Würde gefährdet wird durch Roboter oder künstliche Intelligenz - weil ja dann sowas wie menschliche Vulnerabilität irgendwie ausgenutzt oder ausgebeutet wird - dann ist es ein gravierendes Problem.
Aber ja, es könnte auch sein zu sagen, die Roboter oder wie auch immer das dann in Zukunft aussehen wird, die sind vielleicht auch Teil unserer Gemeinschaft. Und die da zu integrieren und als solche kommt ihnen dann möglicherweise auch Würde zu. Wie ich das übrigens genauso auch für tierische Lebewesen teilweise sagen würde, insofern die auch Teil unserer Lebenswelt sind, haben die auch eine Form von tierischer Würde, also ich kann ihnen darauf keine definitive Antwort geben. Aber ich würde es auch nicht ausschließen.
Aber was mir wichtig wäre als Punkt: Es kann auch nicht um den Preis einer Abschwächung, oder Einebnung, oder Erosion von universaler Menschenwürde geschehen.
Also wenn, dann müsste es eine inklusive Bewegung sein und keine Exkludierende gegenüber Menschen.
Marc von der Linde
OK, vielen Dank für ihre Zeit und das Gespräch.
Dr. Regina Schidel
Ich bedanke mich ganz herzlich, dass Sie gekommen sind.
Folge 2 - Der Wert der Menschenwürde