Tragende Gedanken
Tragende Gedanken Podcast
Folge 1 - Was sind Werte?
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Folge 1 - Was sind Werte?

Eine Bestandsaufnahme in Europa - u.a. mit Univ.-Prof. Dr. Tim Henning

Disclaimer:

In diesem Podcast wird zur besseren Verständlichkeit das generische Maskulinum verwendet. Die im Podcast genannten Personenbezeichnungen wie “Bürger”, etc. beziehen sich - sofern nicht anders benannt - auf alle Geschlechter.

Hallo und herzlich Willkommen zum Podcast “Tragende Gedanken” - dem Podcast über die philosophischen Ideen, Gedanken und Konzepte, die hinter unserer alltäglichen Welt zu finden sind.

In jeder Folge werden wir zunächst ein Laienverständnis des jeweiligen Themas aufnehmen. Dabei könnt ihr euer Wissen bereits etwas testen und euer Wissen dann mit meiner Einordnung und mit dem Experteninterview vertiefen.

Zum besseren Verständnis sind zu jeder Folge am Ende der Shownotes einige Fachbegriffe verlinkt. Falls ihr weitere Fragen habt, zögert nicht zu fragen! In diesem Podcast werden wir uns gemeinsam in jeder Staffel einem anderen Themenkomplex widmen, der sich in unserer Alltagswelt versteckt hält. Dieser Podcast soll uns helfen, diese versteckten Ideen und Konzepte besser zu verstehen. Um sie dann auch im Alltag, in unserer Lebenswelt enthüllt vorzufinden.

Dazu werden wir durch verschiedene philosophische Denktraditionen reisen, um danach an genau der selben Stelle wieder herauszukommen. Nur mit einem - hoffentlich - etwas reicherem Blick auf das, was wir auch zuvor schon wahrgenommen haben. Mein Name ist Marc von der Linde und ich führe euch in den jeweiligen Folgen durch die tragenden Gedanken unseres Alltags.


Staffeleinleitung

In der ersten Staffel werden wir uns mit den tragenden Gedankenkonstrukten der Europäischen Union beschäftigen. Wir werden uns vor allem den zugrundeliegenden ethischen Ideen und Konzepten der Europäischen Union zuwenden. Da dies kein Politik-Podcast ist, werden tagesaktuelle Geschehnisse nicht berücksichtigt.

Vor allem soll es um das gehen, was Menschen in Europa verbindet - oder aber auch tiefe Gräben zwischen ihnen zieht. In dieser Staffel wird es um Werte gehen. Konkret um die sechs grundlegenden Werte der Europäischen Union. Diese sind: die Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie, Gleichstellung, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.

Wir werden jedem Wert der europäischen Union eine Folge widmen. In jeder Folge werden wir zu Beginn ein Bild des Laien-Verständnis durch kleine Umfragen aufzeichnen. Daraufhin werde ich eine erste theoretische Einordnung vornehmen.

Diese wird dann mit Experten aus den jeweiligen Feldern ausführlich erläutert. Zum Schluss werde ich noch einige Fragen von euch an die jeweiligen Experten stellen. Diese könnt ihr mir einfach über die üblichen Kanäle zukommen lassen. Die Links dazu findet ihr in den Shownotes.

In dieser Folge werden wir uns grundlegend dem Thema der Werte annähern. Was ist ein Wert und was ist uns von Wert? Wie sind Werte entstanden und wie hängen Werte zusammen? Haben Werte überhaupt Konsequenzen? Wie wirken sie auf uns - und wie wirken wir auf sie?


Kinder der Mainzer Leibnizschule zum Thema Werte

Vorstellungsrunde

Marc von der Linde

Schön, dass ihr heute hier seid. Vielleicht mögt ihr euch einmal kurz vorstellen?

Paula

Ich bin Paula.

Mara

Ich bin Mara.

Anton

Und ich bin der Anton.

Marc von der Linde

Schön, dass ihr hier seid. Wie alt seid ihr und auf welche Schule geht ihr zur Zeit?

Paula

Also, ich bin neun und gehe auf die Leibniz Schule.

Mara

Ich bin zehn und gehe auch auf die Leibnizschule.

Anton

Und ich bin auch zehn und gehe auch auf die Leibnizschule.

Einführung in das Thema Europa

Marc von der Linde

Habt ihr schon mal von Europa gehört?

Paula

Ja. Also ja, weil im Moment wird ja auch viel darüber geredet, weil jetzt gerade auch Europawahl war.

Anton

Ja, und Deutschland ist ja auch in der EU. Und ja - auch, weil gerade die Wahlen waren am 09. Juni.

Marc von der Linde

Was denkt ihr, wieso es Europa gibt?

Paula

Na ja, also ich denke mir immer, wenn ein Land von einem Land, das nicht in der EU ist, mal angegriffen wird, dann hält die EU quasi zusammen und hilft dem Land, schickt ihm Waffen oder Lebensmittel oder so.

Mara

 Ja, ja, also ich würde es auch so sagen.

Anton

Ja, und es ist halt auch einfacher einzureisen, weil man hat ja den deutschen Pass und dann ist es viel einfacher, als wenn man in ein Land fährt, das nicht zur EU gehört. Dann ist es halt viel schwieriger.

Das Konzept der Werte - Werte als Leitvorstellungen

Marc von der Linde

Würdet ihr sagen, dass es Ideen gibt oder Vorstellungen, die uns alle vereinen in Europa?

Paula

Na ja, dass wir uns alle gegenseitig helfen. In Europa zumindest. Ja und es wurden ja auch ein paar Regeln [von den europäischen] Länder[n] zusammen festgelegt, an die sie sich halten wollen.

Mara

Ja, also ich weiß nicht.

Anton

Die Politik ist ja auch sehr wichtig. Und dass viele Länder dann [zu] gleichen Bestimmungen [kommen] und dass auch diskutiert wird, das ist auch wichtig. Aber dass man dann halt am Ende zu einer Lösung kommt und dass die Regeln in den Ländern dann auch gleich sind, bei manchen Gesetzen halt nicht, aber bei vielen ist es dann halt so.

Marc von der Linde

Jetzt ist gerade Europameisterschaft in Europa und vielleicht habt ihr auch schon einige Spiele geschaut und ganz begeistert zugeschaut. Fühlt ihr euch dann auch verbunden mit Leuten, die für das andere Team trainieren oder wie fühlt ihr euch bei den Spielen, wenn zum Beispiel Deutschland gegen ein anderes europäisches Land spielt?

Paula

Also ich bin schon eigentlich immer für Deutschland. Aber ich freue mich natürlich dann auch [mit den] Fans. Wenn dann die andere Mannschaft mal ein Tor schießt, dann denke ich mir so: Ja, es gibt auch Leute, die sich jetzt darüber freuen und nicht nur, wann immer Deutschland ein Tor schießt.

Mara

Also ich gucke eigentlich keinen Fußball, weil es mir eigentlich zu langweilig [ist].

Paula

Aber bei mir ist es oft so, wenn Deutschland halt mal nicht spielt, dann ist es so:  Dann will ich immer gerne ein Unentschieden haben, weil sonst tut mir halt immer die Mannschaft leid, die verliert. Aber man merkt halt trotzdem immer. Also dann freuen sich halt beide Mannschaften.

Anton

Also wenn jetzt Deutschland gegen ein nicht europäisches Land spielt, [wüsste ich nicht, ob ich anders fühlen würde,] keine Ahnung. Aber dann ist es halt so, dass es für mich jetzt nicht so viel ausmacht, wenn die verlieren und genau, aber wenn die gegen ein anderes Land hier aus der EU spielen, dann tut es mir schon ein bisschen mehr leid. Aber es ist halt irgendwie so automatisch.

Marc von der Linde

Denkt ihr, dass Menschen in Europa ähnliche Dinge glauben? Und ein Stück weit vielleicht auch unabhängig von diesem Konstrukt der Staaten, vereint sind durch bestimmte Vorstellungen oder Ideen?

Paula

Oh, das ist jetzt schwer. Ich würde jetzt sagen, manche haben schon eine gleiche Meinung, aber es kann natürlich auch sehr unterschiedlich sein.

Mara

Also ich glaube, in Europa ist es das Besondere, dass fast alle oder alle Länder halt eine Demokratie sind.

Anton

Ja, und dass es auch verschiedene Parteien gibt. Und dass es auch Konflikte gibt. Und das finde ich auch okay, weil man sich am Ende auf eine Lösung einigen kann. Und wenn jetzt einer sagt, ein Mächtiger sagt: Wir legen diese Regel fest, dass dann alle anderen „Ja“ sagen, das ist ja dann keine Politik mehr. Deswegen finde ich das auch wichtig, dass es mehrere Parteien gibt. Nicht nur eine, sodass es auch mehrere Meinungen gibt.

Marc von der Linde

Fällt euch das manchmal schwer, den anderen oder die andere mit ihrer oder seiner Meinung zu respektieren und andere Meinungen auszuhalten oder zu äußern?

Paula

Also ich finde grundsätzlich andere Meinungen nicht schlimm. Aber wenn jemand mich damit nervt oder ärgert, dann finde ich es nicht mehr okay, weil jemand darf eine andere Meinung haben. Aber er soll jetzt nicht sagen: Du bist schlecht mit einer anderen Meinung.

Mara

Bei uns in der Schule ist es halt manchmal so: Da sagen Kinder Sachen, also nicht so gute Sachen über jemanden und sagen dann, wenn er sagt Hey, ich möchte das nicht - Ja, Meinungsfreiheit! Und das finde ich dann halt nicht mehr okay [, wenn so miteinander gesprochen wird.]

Anton

Also ich finde es halt schwierig, schwierig auch, aber man sollte die anderen Meinungen dann auch respektieren. Ja genau.

Marc von der Linde

Und dann habt ihr alle gesagt, dass es, euch ein sehr, sehr großes Anliegen ist, Meinungen anderer zu respektieren. Und ich finde es sehr beeindruckend, dass ihr schon eurem Alter darüber nachdenkt, wie wichtig es ist, die Meinung anderer zu tolerieren und zu respektieren. Habt ihr schon mal von Werten gehört? Also was kommt euch in den Kopf, wenn ihr von Werten hört oder von Wert?

Paula

Also mir kommen jetzt erst mal so zwei Dinge in den Kopf.
Einmal den Wert von Menschen, dass also zum Beispiel im Grundgesetz steht ja, dass alle Menschen gleich viel wert sind.
Und einmal die Noten in unserer Schule, da wird ja auch so ein bisschen verglichen. Und ja, das finde ich manchmal gut und manchmal nicht so gut.

Mara

Also ich glaube, ich hätte auch dieses Beispiel von den Menschen gesagt.

Anton

Auch das Beispiel von den Menschen und dass es ja auch in allen EU Ländern die gleiche Währung gibt und das [Geld] ist dann auch gleich viel wert. Also 2 € sind in jedem Land 2 €. Ja.

Marc von der Linde

Ja, interessant, dass ihr da auch schon diese zwei Bedeutungen des Begriffs kennt. Schon das, was du gesagt hast, diese Bedeutung im Kontext von Handel und im Kontext von Wirtschaft und dass etwas von Wert ist und dass man für bestimmte Dinge einen bestimmten Preis zahlen muss. Um sie kaufen zu können und dann andererseits diese Dimension des Wertes eines Menschen und wie würdet ihr sagen, dass der Wert eines Menschen in Europa festgelegt ist?

Oder würdet ihr denken, dass es überhaupt möglich ist, den Wert eines Menschen festzulegen?

Mara

Also ich würde sagen, in Europa, da ist es eigentlich überall so. Würde Ich sagen. Dass die Menschen alle gleich sind.

Also dass man nicht sagen kann:  Hey, Du da. Du kommst aus der Türkei und du kommst aus Deutschland, dann gebe ich dir [als Deutscher] ne bessere Note.

Paula

Ich würde sagen, man kann den Wert nicht ganz genau festlegen, aber sonst würde ich eher sagen, alle Menschen sind relativ gleich, also sollten jetzt nicht benachteiligt werden.

Anton

Also ich finde das auch so. Und man sollte halt auch nicht zwischen den Ländern entscheiden, zum Beispiel weil du aus irgend [ei]nem blöden Land kommst, was ich blöd finde, dass man die dann ärgert oder nicht respektiert. Und das finde ich halt auch wichtig. Und ich glaube jeder, also jeder hat den gleichen [Wert]; Also jeder Mensch ist gleich viel wert.

Marc von der Linde

Nun seid ihr drei alle in der Schule und lernt da hoffentlich auch ganz viel. Würdet ihr sagen, dass diese Zeit in der Schule, wo ihr so viel lernt, auch wertvoll ist für euch?

Hat es ein Stück weit einen Stellenwert für euch?

Anton

Ja, also hat es. Vor allem auch, dass wir lernen dürfen, weil in vielen Ländern, die nicht aus der EU sind, ist es ja so, dass Kinder in anderen Ländern arbeiten müssen, um Geld zu verdienen. Und hier hat man halt das Recht auf Bildung. Das finde ich halt auch sehr wichtig, damit man später auch einen Job kriegt und was verdient und genau das finde ich halt wichtig.

Mara

Also ich finde es auch so in der Schule dann irgendwie, da kann man auch, da habe ich viele Freunde gefunden auch, aber auch irgendwie, dass ich lesen kann, bringt mir halt auch einen großen Vorteil einfach. Ja und ich finde es einfach cool, mal in Büchern zu lesen.

Paula

Ja, es ist ja auch praktisch für die weiterführende Schule. Auch weil wenn ich einfach ohne Grundschule in die weiterführende Schule gehen würde, käme ich nicht so weit. Da brauche ich ja schon das Vorwissen aus der Grundschule.

Marc von der Linde

Seid ihr noch gläubig? Geht ihr zur Kirche; gehen eure Eltern zu Kirche? Und zur Kirche gehen ist das was, was ihr vielleicht noch von den Großeltern kennt, oder habt ihr gar keinen Bezug mehr dazu?

Paula

Also ich geh nicht mit meinen Eltern in die Kirche und meine Eltern sind auch nicht mehr in der Kirche. Aber meine Oma und Opa gehen ab und zu noch mal in die Kirche und meine Tante und mein Onkel auch. Aber sonst? Eigentlich nie.

Mara

Also ich gehe mit meinen Eltern eigentlich nicht so in die Kirche, aber meine Mama geht schon manchmal in die Kirche, einfach weil sie es schön findet.

Anton

Also bei mir ist es genau so, also meine Eltern gehen auch nicht in die Kirche, ich auch nicht. Aber meine Großeltern auch nicht. Aber wenn wir Besuch haben und in der Stadt sind, wenn wir gerade mal eine Kirche vorbeilaufen, dann gehen wir manchmal rein und schauen uns da ein bisschen um.

Marc von der Linde

Würdet ihr sagen, dass ihr selbst glaubt, also glaubt an etwas, wie an einen Gott oder etwas, was außerhalb des menschlichen Lebens ist?

Paula

Also im Religionsunterricht bin ich mir manchmal nicht so ganz sicher, ob ich an Gott glaube oder nicht. Weil manchmal ist es so: Ja, das kann nur Gott gewesen sein und manchmal ist es so, ne den gibt es nicht. und nein, kann ich nicht sagen. Ich könnt mich nicht entscheiden.

Mara

Also bei mir ist es auch manchmal so, manchmal gibt es so Geschichten, wo ich denke, naja, das kann schon Gott gewesen sein, aber manchmal auch schon so das ist bestimmt nicht Gott gewesen. Und ich würde eher sagen, dass ich eher nicht so an Gott glaube. Aber ich könnte es auch nicht genau sagen.

Anton

Also wie die anderen schon gesagt haben, ist es bei mir auch. Manchmal stelle ich mir dann halt so Fragen, wo ich dann keine Antwort drauf finde, denn man weiß halt nicht so genau, man kann ja nicht so ganz genau schauen. Also in die Vergangenheit, vor allem nicht so weit zurück. Und deswegen würde ich auch sagen, [dass es schwierig ist] aber ich glaube auch eher nicht an Gott.

Marc von der Linde

Wenn ihr zum Beispiel wandern oder mit dem Fahrrad unterwegs seid, mit euren Eltern oder mit Freunden: Wie ist es dann, wenn ihr zum Beispiel eine Schnecke auf dem Weg seht und oder einen Regenwurm, der auf der Straße gelandet ist. Habt ihr Mitleid mit diesen Wesen oder ist es so ein Gefühl von Ekel? Oder wolltet ihr helfen?

Paula

Also wenn es keine Nacktschnecke ist, dann würde ich dem Tier schon helfen. Also wenn jetzt eine Hummel auf der Straße liegt, [helfe ich dann] schon.

Mara

Also bei mir ist es so, wenn ich irgendwie ein Tier auf der Straße sehe, zum Beispiel eine Schnecke, dann trage ich sie schon auf die Seite, weil ich habe halt irgendwie Angst, dass irgendwie ein Fahrradfahrer drüber fährt oder jemand drauftritt.

Anton

Also ich habe auch eine Vorliebe zu Tieren und ich mache [das] dann auch. Also ich mache [es] dann auch, weil ich dann halt auch Mitleid mit den Tieren kriege, weil sie sind halt auch Wesen wie wir. Dann stelle ich mir immer vor: Wenn ich dieses Tier wäre und man einfach da drüber fahren würde, dann ist man ja auch tot und es wäre wie wenn so ein Riese kommen würde und sagt: Das sind ja lästige Dinger, weg mit euch und dann einfach töten würde.

Fänden wir ja auch nicht gut, gar nicht gut.

Marc von der Linde

Habt ihr eine Ahnung, wo dieses Mitgefühl herkommt, oder könnt ihr was dazu zu sagen, wie das bei euch entsteht?

Mara

Also ich weiß nicht genau, aber bei mir ist es auch manchmal so irgendwie, wenn irgendwie Leute den Bus verpassen, dann tut sie mir halt auch immer leid. Also bei mir ist es nicht nur bei Tieren, sondern auch bei Menschen.

Anton

Also [das] finde ich auch so und auch weil die Tiere mir dann halt leidtun, weil ich dann denken würde, wenn ich das nicht mache, werden die überfahren oder so und deswegen ja so entsteht es halt. Und ich hatte schon eine Vorliebe für Tiere, auch eher für viele Tiere. Menschen würden auch manche Tiere als eklig bezeichnen. Aber alle Tiere sind ja auch Wesen. Deswegen finde ich, dass man die alle gleich behandeln sollte wie Menschen.

Paula

Also wenn jetzt jemand den Bus verpasst, ja was ist denn da, wenn es jetzt was Wichtiges ist? Was ist, wenn er zum Arzt muss? Der ist krank und ihm kann deshalb nicht geholfen werden, weil er den Bus verpasst. Ist ja auch nicht cool. Und so geht es mir beim Tier auch manchmal. Also manchmal kann man ja auch nichts machen.

Manchmal kann man ja auch, wenn man irgendwo ein kleines Rehkitz auf der Wiese sieht, dann kann man dem ja auch grad nicht helfen. Also soll man ja auch nicht. Man soll ja nicht einfach Rehkitze wegtragen. Deswegen tun sie mir dann auch schon leid.

Marc von der Linde

Habt ihr eine Beziehung zu Mainz oder zur Rheinland-Pfalz oder zu Deutschland? Also was kommt euch in den Kopf, wenn ihr an diese, also an die Stadt Mainz denkt und an das Bundesland, und an das Land Deutschland, an sich denkt?

Anton

Ich denke manchmal darüber nach. Und ja, dass Deutschland auch das viele oder alle deutsche Rechte haben, aber dann halt auch Pflichten. Ich finde die [Vielfalt der] Kulturen auch gut, dass es mehrere gibt und nicht nur zum Beispiel nur Christen oder nur Muslime.

Und ich finde auch die Bauwerke schön. Wir haben sehr viele schöne Bauwerke. Hier ja auch in Mainz den Dom und deswegen finde ich, dass alle Deutsche und auch Geflüchtete zusammenhalten sollten. Und ja.

Mara

Also wenn ich an Mainz denke, denke ich eigentlich immer an was Schönes oder an mein Zuhause halt. Obwohl ich jetzt vor einem Jahr nach Wiesbaden gezogen bin, verbringe ich halt die meiste Zeit, trotzdem weiterhin in Mainz, [weil ich hier] in die Schule gehe. Meine Freunde wohnen in Mainz.

Paula

Ja, also wenn ich jetzt an Mainz, Deutschland und Rheinland Pfalz denken würde, würde ich jetzt erst mal denken: Ich bin in Mainz geboren, mein Papa ist in einem anderen Bundesland geboren und meine Mama ist in einem anderen Land geboren.

Deswegen würde ich eigentlich sagen, ich bin die einzige [in meiner Familie], die so richtig eine Verbindung zu Mainz hat. Aber ich bin halt hier geboren und [Mainz ist] halt schon immer auch mein Zuhause.

Marc von der Linde

Was bedeutet es für euch: Zuhause?

Paula

Also für mich bedeutet Zuhause Sicherheit. Auf jeden Fall. Und Zuhause ist, dass eigentlich immer jemand da ist.

Anton

Ich fühle mich Zuhause wohl und da ist mein Zimmer. Da verbringe ich die meiste Zeit, wenn ich nicht mit Freunden spiele. Und ja, wir haben auch ein sehr schönes Zuhause und es ist auch viel Sicherheit und Geborgenheit. Aber das Blöde ist halt, dass nicht alle Menschen ein Dach überm Kopf haben. So und deswegen würde ich das gut finden, wenn jeder das Recht auf Wohnen hat und auf ein Zuhause.

Paula

Also zu Hause ist für mich, dass da meine Familie ist, dass einfach jemand für mich da ist. Aber ich würde sagen, man kann zu Hause halt auch aus verschiedenen Sichten sehen. Also, weil  bei meinen Oma und Opa ist es für mich auch schon ein bisschen wie ein Zuhause. Ich bin da halt oft, mit meiner Oma und meinem Opa.

Marc von der Linde

Habt ihr ähnlich viele Gedanken zu dem Wort Heimat und  könnt ihr damit etwas anfangen mit dem Wort Heimat?

Mara

Heimat ist für mich Deutschland. Und Heimat, ist aber eigentlich auch mit meiner Schwester. Also ich könnte mir das eigentlich nicht gut vorstellen ohne sie.

Anton

Also ich stelle mir halt auch [Folgendes] darunter vor: [Zuhause ist] auch das Land, dass Schutz gibt und Sicherheit.

Paula

Also Heimat ist für mich auch Deutschland und Mainz. Ich könnt mir jetzt auch nicht vorstellen, jetzt in ein anderes Land zu ziehen. Da müsste ich wahrscheinlich erstmal ein paar Jahre leben, um das wieder als Heimat bezeichnen zu können.

Marc von der Linde

Würdet ihr sagen, dass Heimat oder Zuhause sehr an Menschen gebunden ist, die euch nahe stehen?

Mara

Also ich würde das auf jeden Fall [so] bezeichnen, weil bei mir zu Hause sind meine Eltern und meine Schwester und die sind mir halt schon sehr nahe.

Anton

Ja, also immer wenn ich dann nach Hause gehe, dann weiß ich, da sind meine Eltern. Und genau das finde ich schön so, dass das so ist und ja, genau meine Eltern.

Paula

Also für meine Mama könnte Heimat auch Deutschland sein. Aber es könnte auch sein, dass für sie Heimat auch Polen bedeutet. Deswegen, [ich] weiß nicht, vielleicht ist Polen ja auch ein bisschen meine Heimat. Da kommen ja auch meine Oma und Opa her.

Werte - Begriffseinordnung

Das Wort Wert entstammt dem althochdeutschen Begriff “werd”, was den Kaufpreis einer Ware bezeichnet. Auch heute findet es noch Verwendung im ökonomischen Kontext.

Wenn wir nun aber im philosophischen Kontext über Werte reden, sind wir im Bereich der praktischen Philosophie. Werte sind Vorstellungen, die unser Handeln leiten sollen. In gewisser Weise sind es Vorstellungen von einem Zusammenleben, für die eine Gemeinschaft bereit ist, Lasten zu tragen. Der Sozialstaat in Deutschland beispielsweise ist aus einem Wert der Armenfürsorge entstanden. Werte geben Handlungsrichtungen vor, denen Kulturen überall auf der Welt folgen. Jede Kultur be-wertet Situationen mit einem gewissen Maßstab, der sich durch ihren Wertekanon konstituiert. Diese Werte sind auch immer Ergebnis gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie stehen stets in einem Wechselspiel der Kulturgeschichte einer Region bzw. Kultur.

EU Historisierung

Die europäische Union ist eine Staatengemeinschaft, die auf dem europäischen Kontinent nach dem zweiten Weltkrieg entstand. Die Grundmotivation der Gründung war nach dem Krieg eine politische Gemeinschaft zu schaffen, die langfristigen Frieden ermöglicht.

Die europäische Union begann vor allem als Wirtschaftsgemeinschaft, in deren Gründungsverträgen der Kultur- und Wertebegriff lange Zeit keine erwähnenswerte Rolle spielte.

Europäische Wertefamilien

Als europäische Wertefamilien bezeichnet Literaturwissenschaftler Vietta die dominanten Wertesysteme, die in den Staaten der europäischen Union vorzufinden sind.

Er macht drei dieser Wertefamilien aus. Und zwar:

  1. Die Rationalitätskultur mit Wurzeln in der Antike

  2. Die karitativ-christlichen Werte als religiöse Wertefamilie

und

  1. patriotische Werte, die die Bedeutung des Nationalstaates betonen.

Rationalitätskultur antiker Wurzeln

Die aus der Antike stammende Kultur der Rationalität entsteht aus Einflüssen der babylonischen, ägyptischen und phönizischen Hochkulturen und gründet primär in rationalem Verhalten.

Ihr liegen Leitwerte zugrunde, die auch wieder in der Aufklärung rege Rezeption fanden:

Das Netz der Leitwerte der Rationalitätskultur steht und fällt mit der Prämisse, dass ein jeder Mensch befähigt ist zum eigenständigen Denken. Das eigene, selbstständige Denken ist zugleich Ursprung und Grund der Rationalität.

Aus dieser Prämisse entstehen dann weitere Leitwerte, die als Prämissen eines guten, demokratischen Zusammenlebens gelten. Im Zusammenspiel der einzelnen Leitwerte der Rationalitätskultur soll ein reges, demokratisches Leben entstehen. Dieses demokratische Leben folgt der Idee, dass jegliche Diskurse, rational geführt, zu einem für alle sinnvollen Ergebnis führen.

Die einzelnen Leitwerte bauen in dieser Hinsicht in gewisser Weise aufeinander auf. Sie sind Grundlage, ja Fundament eines demokratischen Zusammenlebens nach antikem Vorbild. Über Entwicklungen des demokratischen Gedankens und inwieweit dieser in heutigen demokratischen Gesellschaften realisiert ist, muss an anderer Stelle diskutiert werden.

Wahrheit und Wahrhaftigkeit gelten als anstrebenswertes Ideal und Ziel für das eigene Denken, den Diskurs der demokratischen Öffentlichkeit und des privaten Lebens. Denn nur wenn die teilenehmenden Bürger sich der Wahrheit verpflichtet fühlen, kann über Entscheidungen diskutiert werden.

Kritik und Kritikfähigkeit dienen dem Wahrheitsgehalt des Diskurses, da so der Raum und die Grundlage geschaffen wird um auf ein Abweichen von der Wahrheit hinzuweisen und Diskursbeiträge gegebenenfalls zu korrigieren.

Allerdings ist Kritik kein Freifahrtsschein für respektloses Verhalten, Meinungen anderer Bürger, wenn sie die Wahrheit nicht verdrehen, müssen toleriert werden - als in ihrem Sein verschiedene vor dem Gesetz aber Gleiche Bürger.

Die Bürger eines Staates, der sich der Rationalitätskulturellen Werten verschreibt, müssen in Freiheit leben, um ein selbstbestimmtes politisches Leben führen zu können.

Die Freiheit eines jeden Bürgers muss diesem Raum geben für die Entwicklung- und Bildungsarbeit des eigenen Ichs: Es muss Spielräume geben für Individualität, Personalität und Subjektivität.

Um diese Spielräume zu gestalten, müssen dem einzelnen Bürger Möglichkeiten der Entwicklung und Bildung gegeben werden.

Die Grundlage des sicheren und zivilen Zusammenlebens der Bürger bildet die Rechtssicherheit. Der einzelne Bürger muss sich darauf verlassen können, dass das Recht für alle gleichermaßen gilt und durchgesetzt wird.

Diese durch diese Werte zusammengehaltene Gesellschaft muss wehrhaft sein, gegen Einflüsse und Angriffe gegen dieses System aus institutionalisierten Werten.

Zudem findet die Rationalität Umsetzung in Technik. Algorithmen der Informationstechnologie bauen auf logischen Operatoren auf, die ihren Ursprung in Formalisierungen der natürlichen Sprachen haben.

Die Leitwerte der Rationalitätskultur finden sich heutzutage in verschieden Institutionen wieder:

Beispielsweise in Schulen und Universitäten, den öffentlichen Medien (die einer wahrheitsverbundenen Berichterstattung dienlich sein sollen) oder den politischen Organisationen demokratischer Regierungen.

Religiöse Wertefamilie

Die Bedeutung der religiösen Wertefamilie entstammt der anthropologischen Grundüberzeugung, dass dem Menschen stets auch einen Bezug zum Transzendentalen innewohnt.

Der Fokus in dieser Wertefamilie liegt stärker auf relationalen und sozialen Werten, die sich vor allem in Beziehungen zwischen Menschen und anderen Wesen manifestieren.

Es geht um die Bedeutung des christlichen Wertekanons in Europa, der geprägt ist durch:

  • Armenfürsorge

  • Nächstenliebe

  • Empathie

  • Gleichheit der Geschöpfe

  • Friedfertigkeit

  • Nachhaltigkeit

Patriotische Werte

Das von vielen Nationalstaaten geprägte Europa und die europäische Union zeichnen sich auch durch eine Präsenz von patriotischen Werten aus.

Es herrscht in vielen Ländern ein gewisser Patriotismus, der hier nur als positive Beziehung zum eigenen Vaterland als primärer Lebensraum verstanden werden soll.

Der Patriotismus geht einher mit einem Nationenbewusstsein, das minimal definiert werden soll als eine positive Beziehung eines Menschen zu jenem Staat, in dem er heimisch geworden ist.

Die Bedeutung von Heimat spielt auch eine Rolle, als eine subjektive Beziehung zum unmittelbaren Lebensraum der frühen Lebenserfahrungen.

Auch ist Europa gekennzeichnet von vielen verschiedenen Muttersprachen, die in den jeweiligen Ländern gesprochen und gepflegt werden. Die Muttersprache ist die erste die Aufwachsende lernen und aus dem dadurch entwickelten Sprachverständnis sich Muttersprachler dann weitere aneignen.

Diese patriotischen Werte sind manifestiert in Institutionen der Regierungen, symbolischen Repräsentationen der Nation, wie Nationalflaggen und nationale Symbole wie dem Bundesadler der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Politiker.

Werte der EU

Die europäische Union hat sich einigen Werten vertraglich verschrieben. Diese Werte sollen als Leitbild der europäischen Staaten und allen Menschen dienen, die in diesen Ländern ihr Zuhause finden. Viele der sechs Werte sind aus den eben genannten historischen Wertefamilien entsprungen, die bis heute noch in der tagesaktuellen Politik zu erkennen sind.

Silvio Vietta verwendet hier den Begriff der Wertefamilie, weil Werte immer auch zusammenhängen. Ein Wert entsteht selten allein und viele der europäischen Werte sind, ähnlich wie Familien, verwandt, einander ähnlich. Auch die Wirkung entfalten die Werte oft erst im Zusammenspiel miteinander - aber dazu mehr im nächsten Teil.

Gründungswerte von Lissabon 2009

Erst im Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009 werden explizit Gründungswerte genannt. Dort heißt es wörtlich:

Vertrag von Lissabon aus dem Jahre 2009, in Artikel 2:

“Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemein, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.”

Die Wahl der Werte erfolgt aus dem bereits im europäischen Kulturraum vorhandenen Wertekanon. Dabei wurden innere Widersprüche wenig reflektiert und der oft geäußerte Anspruch einer universellen Gültigkeit bleibt ein anderes Problem. Werte wie Sicherheit und Freiheit sind ein Beispiel für konträre Werte, deren Gewichtung und Priorisierung sich im Laufe der Zeit kontinuierlich verändert. Denn auch die Geltung und Bewahrung der Menschenrechte ist in Europa eine noch relativ junge kulturelle, zivilisatorische Errungenschaft.

Jedoch bleiben die Werte in der Tagespolitik ein vages Leitbild, das von allen Beteiligten des Parteienspektrums anders ausgelegt und priorisiert wird. Denn auch wenn es immer wieder Versuche gibt, ein geeintes Europa als politisches und Identitätsprojekt auszurufen, gilt gerade in dieser Einheit über die Eigenschaften der europäischen Kultur:

“Ihr Kennzeichen ist Vielgestaltigkeit, nicht Uniformität” Buchstab: Die kulturelle Eigenart Europas.

Zum Experteninterview mit Univ.-Prof Dr. Tim Henning geht es hier:

Diskussion über diesen Podcast

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Music-Credits
““Sassy Jazzy” by LaFaena, from the Free Music Archive is licensed under type CC BY 4.0”
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