Disclaimer: In diesem Podcast wird zur besseren Verständlichkeit das generische Maskulinum verwendet. Die im Podcast genannten Personenbezeichnungen wie “Bürger”, etc. beziehen sich - sofern nicht anders benannt - auf alle Geschlechter.
Hallo und herzlich Willkommen zum Podcast “Tragende Gedanken” - dem Podcast über die philosophischen Ideen, Gedanken und Konzepte, die hinter unserer alltäglichen Welt zu finden sind. In jeder Folge werden wir zunächst ein Laienverständnis des jeweiligen Themas aufnehmen. Dabei könnt ihr euer Wissen bereits etwas testen und euer Wissen dann mit meiner Einordnung und mit dem Experteninterview vertiefen. Zum besseren Verständnis sind zu jeder Folge am Ende der Shownotes einige Fachbegriffe verlinkt. Falls ihr weitere Fragen habt, zögert nicht zu fragen! In diesem Podcast werden wir uns gemeinsam in jeder Staffel einem anderen Themenkomplex widmen, der sich in unserer Alltagswelt versteckt hält. Dieser Podcast soll uns helfen, diese versteckten Ideen und Konzepte besser zu verstehen. Um sie dann auch im Alltag, in unserer Lebenswelt enthüllt vorzufinden. Dazu werden wir durch verschiedene philosophische Denktraditionen reisen, um danach an genau der selben Stelle wieder herauszukommen. Nur mit einem - hoffentlich - etwas reicherem Blick auf das, was wir auch zuvor schon wahrgenommen haben. Mein Name ist Marc von der Linde und ich führe euch in den jeweiligen Folgen durch die tragenden Gedanken unseres Alltags.
In der ersten Staffel werden wir uns mit den tragenden Gedankenkonstrukten der Europäischen Union beschäftigen. Wir werden uns vor allem den zugrundeliegenden ethischen Ideen und Konzepten der Europäischen Union zuwenden. Da dies kein Politik-Podcast ist, werden tagesaktuelle Geschehnisse nicht berücksichtigt. Vor allem soll es um das gehen, was Menschen in Europa verbindet - oder aber auch tiefe Gräben zwischen ihnen zieht. In dieser Staffel wird es um Werte gehen. Konkret um die sechs grundlegenden Werte der Europäischen Union. Diese sind: die Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie, Gleichstellung, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte. Wir werden jedem Wert der europäischen Union eine Folge widmen. In jeder Folge werden wir zu Beginn ein Bild des Laien-Verständnis durch kleine Umfragen aufzeichnen. Daraufhin werde ich eine erste theoretische Einordnung vornehmen. Diese wird dann mit Experten aus den jeweiligen Feldern ausführlich erläutert. Zum Schluss werde ich noch einige Fragen von euch an die jeweiligen Experten stellen. Diese könnt ihr mir einfach über die üblichen Kanäle zukommen lassen. Die Links dazu findet ihr in den Shownotes.
In dieser Folge werden wir uns grundlegend dem Thema der Werte annähern. Was ist ein Wert und was ist uns von Wert? Wie sind Werte entstanden und wie hängen Werte zusammen? Haben Werte überhaupt Konsequenzen? Wie wirken sie auf uns - und wie wirken wir auf sie?
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Werte - Begriffseinordnung
Das Wort Wert entstammt dem althochdeutschen Begriff “werd”, was den Kaufpreis einer Ware bezeichnet. Auch heute findet es noch Verwendung im ökonomischen Kontext.
Wenn wir nun aber im philosophischen Kontext über Werte reden, sind wir im Bereich der praktischen Philosophie. Werte sind Vorstellungen, die unser Handeln leiten sollen. In gewisser Weise sind es Vorstellungen von einem Zusammenleben, für die eine Gemeinschaft bereit ist, Lasten zu tragen. Der Sozialstaat in Deutschland beispielsweise ist aus einem Wert der Armenfürsorge entstanden. Werte geben Handlungsrichtungen vor, denen Kulturen überall auf der Welt folgen. Jede Kultur be-wertet Situationen mit einem gewissen Maßstab, der sich durch ihren Wertekanon konstituiert. Diese Werte sind auch immer Ergebnis gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie stehen stets in einem Wechselspiel der Kulturgeschichte einer Region bzw. Kultur.
EU Historisierung
Die europäische Union ist eine Staatengemeinschaft, die auf dem europäischen Kontinent nach dem zweiten Weltkrieg entstand. Die Grundmotivation der Gründung war nach dem Krieg eine politische Gemeinschaft zu schaffen, die langfristigen Frieden ermöglicht.
Die europäische Union begann vor allem als Wirtschaftsgemeinschaft, in deren Gründungsverträgen der Kultur- und Wertebegriff lange Zeit keine erwähnenswerte Rolle spielte.
Europäische Wertefamilien
Als europäische Wertefamilien bezeichnet Literaturwissenschaftler Vietta die dominanten Wertesysteme, die in den Staaten der europäischen Union vorzufinden sind.
Er macht drei dieser Wertefamilien aus. Und zwar:
Die Rationalitätskultur mit Wurzeln in der Antike
Die karitativ-christlichen Werte als religiöse Wertefamilie
und
patriotische Werte, die die Bedeutung des Nationalstaates betonen.
Rationalitätskultur antiker Wurzeln
Die aus der Antike stammende Kultur der Rationalität entsteht aus Einflüssen der babylonischen, ägyptischen und phönizischen Hochkulturen und gründet primär in rationalem Verhalten.
Ihr liegen Leitwerte zugrunde, die auch wieder in der Aufklärung rege Rezeption fanden:
Das Netz der Leitwerte der Rationalitätskultur steht und fällt mit der Prämisse, dass ein jeder Mensch befähigt ist zum eigenständigen Denken. Das eigene, selbstständige Denken ist zugleich Ursprung und Grund der Rationalität.
Aus dieser Prämisse entstehen dann weitere Leitwerte, die als Prämissen eines guten, demokratischen Zusammenlebens gelten. Im Zusammenspiel der einzelnen Leitwerte der Rationalitätskultur soll ein reges, demokratisches Leben entstehen. Dieses demokratische Leben folgt der Idee, dass jegliche Diskurse, rational geführt, zu einem für alle sinnvollen Ergebnis führen.
Die einzelnen Leitwerte bauen in dieser Hinsicht in gewisser Weise aufeinander auf. Sie sind Grundlage, ja Fundament eines demokratischen Zusammenlebens nach antikem Vorbild. Über Entwicklungen des demokratischen Gedankens und inwieweit dieser in heutigen demokratischen Gesellschaften realisiert ist, muss an anderer Stelle diskutiert werden.
Wahrheit und Wahrhaftigkeit gelten als anstrebenswertes Ideal und Ziel für das eigene Denken, den Diskurs der demokratischen Öffentlichkeit und des privaten Lebens. Denn nur wenn die teilenehmenden Bürger sich der Wahrheit verpflichtet fühlen, kann über Entscheidungen diskutiert werden.
Kritik und Kritikfähigkeit dienen dem Wahrheitsgehalt des Diskurses, da so der Raum und die Grundlage geschaffen wird um auf ein Abweichen von der Wahrheit hinzuweisen und Diskursbeiträge gegebenenfalls zu korrigieren.
Allerdings ist Kritik kein Freifahrtsschein für respektloses Verhalten, Meinungen anderer Bürger, wenn sie die Wahrheit nicht verdrehen, müssen toleriert werden - als in ihrem Sein verschiedene vor dem Gesetz aber Gleiche Bürger.
Die Bürger eines Staates, der sich der Rationalitätskulturellen Werten verschreibt, müssen in Freiheit leben, um ein selbstbestimmtes politisches Leben führen zu können.
Die Freiheit eines jeden Bürgers muss diesem Raum geben für die Entwicklung- und Bildungsarbeit des eigenen Ichs: Es muss Spielräume geben für Individualität, Personalität und Subjektivität.
Um diese Spielräume zu gestalten, müssen dem einzelnen Bürger Möglichkeiten der Entwicklung und Bildung gegeben werden.
Die Grundlage des sicheren und zivilen Zusammenlebens der Bürger bildet die Rechtssicherheit. Der einzelne Bürger muss sich darauf verlassen können, dass das Recht für alle gleichermaßen gilt und durchgesetzt wird.
Diese durch diese Werte zusammengehaltene Gesellschaft muss wehrhaft sein, gegen Einflüsse und Angriffe gegen dieses System aus institutionalisierten Werten.
Zudem findet die Rationalität Umsetzung in Technik. Algorithmen der Informationstechnologie bauen auf logischen Operatoren auf, die ihren Ursprung in Formalisierungen der natürlichen Sprachen haben.
Die Leitwerte der Rationalitätskultur finden sich heutzutage in verschieden Institutionen wieder:
Beispielsweise in Schulen und Universitäten, den öffentlichen Medien (die einer wahrheitsverbundenen Berichterstattung dienlich sein sollen) oder den politischen Organisationen demokratischer Regierungen.
Religiöse Wertefamilie
Die Bedeutung der religiösen Wertefamilie entstammt der anthropologischen Grundüberzeugung, dass dem Menschen stets auch einen Bezug zum Transzendentalen innewohnt.
Der Fokus in dieser Wertefamilie liegt stärker auf relationalen und sozialen Werten, die sich vor allem in Beziehungen zwischen Menschen und anderen Wesen manifestieren.
Es geht um die Bedeutung des christlichen Wertekanons in Europa, der geprägt ist durch:
Armenfürsorge
Nächstenliebe
Empathie
Gleichheit der Geschöpfe
Friedfertigkeit
Nachhaltigkeit
Patriotische Werte
Das von vielen Nationalstaaten geprägte Europa und die europäische Union zeichnen sich auch durch eine Präsenz von patriotischen Werten aus.
Es herrscht in vielen Ländern ein gewisser Patriotismus, der hier nur als positive Beziehung zum eigenen Vaterland als primärer Lebensraum verstanden werden soll.
Der Patriotismus geht einher mit einem Nationenbewusstsein, das minimal definiert werden soll als eine positive Beziehung eines Menschen zu jenem Staat, in dem er heimisch geworden ist.
Die Bedeutung von Heimat spielt auch eine Rolle, als eine subjektive Beziehung zum unmittelbaren Lebensraum der frühen Lebenserfahrungen.
Auch ist Europa gekennzeichnet von vielen verschiedenen Muttersprachen, die in den jeweiligen Ländern gesprochen und gepflegt werden. Die Muttersprache ist die erste die Aufwachsende lernen und aus dem dadurch entwickelten Sprachverständnis sich Muttersprachler dann weitere aneignen.
Diese patriotischen Werte sind manifestiert in Institutionen der Regierungen, symbolischen Repräsentationen der Nation, wie Nationalflaggen und nationale Symbole wie dem Bundesadler der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Politiker.
Werte der EU
Die europäische Union hat sich einigen Werten vertraglich verschrieben. Diese Werte sollen als Leitbild der europäischen Staaten und allen Menschen dienen, die in diesen Ländern ihr Zuhause finden. Viele der sechs Werte sind aus den eben genannten historischen Wertefamilien entsprungen, die bis heute noch in der tagesaktuellen Politik zu erkennen sind.
Silvio Vietta verwendet hier den Begriff der Wertefamilie, weil Werte immer auch zusammenhängen. Ein Wert entsteht selten allein und viele der europäischen Werte sind, ähnlich wie Familien, verwandt, einander ähnlich. Auch die Wirkung entfalten die Werte oft erst im Zusammenspiel miteinander - aber dazu mehr im nächsten Teil.
Gründungswerte von Lissabon 2009
Erst im Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009 werden explizit Gründungswerte genannt. Dort heißt es wörtlich:
Vertrag von Lissabon aus dem Jahre 2009, in Artikel 2:
“Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemein, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.”
Die Wahl der Werte erfolgt aus dem bereits im europäischen Kulturraum vorhandenen Wertekanon. Dabei wurden innere Widersprüche wenig reflektiert und der oft geäußerte Anspruch einer universellen Gültigkeit bleibt ein anderes Problem. Werte wie Sicherheit und Freiheit sind ein Beispiel für konträre Werte, deren Gewichtung und Priorisierung sich im Laufe der Zeit kontinuierlich verändert. Denn auch die Geltung und Bewahrung der Menschenrechte ist in Europa eine noch relativ junge kulturelle, zivilisatorische Errungenschaft.
Jedoch bleiben die Werte in der Tagespolitik ein vages Leitbild, das von allen Beteiligten des Parteienspektrums anders ausgelegt und priorisiert wird. Denn auch wenn es immer wieder Versuche gibt, ein geeintes Europa als politisches und Identitätsprojekt auszurufen, gilt gerade in dieser Einheit über die Eigenschaften der europäischen Kultur:
“Ihr Kennzeichen ist Vielgestaltigkeit, nicht Uniformität” Buchstab: Die kulturelle Eigenart Europas.